Gemessen an seinem gewohnten Arbeitstempo hat VANDALISMUS diesmal ungewöhnlich viel Zeit verstreichen lassen. 18 Monate liegt sein Album "Ritual O.S.T." inzwischen zurück, erst jetzt tritt der inzwischen in Köln beheimatete Rapper erneut auf den Plan. Schon der Titel lässt durchblicken, dass sein kompaktes neues Release nicht bloß an der Oberfläche kratzt: "Lichtenberg Therapie" geht ans Eingemachte.
Die Entstehungsgeschichte erzählt VANDALISMUS am besten selbst:
"Ich bin bereits seit vielen Jahren in Therapie, um die traumatischen Erlebnisse meiner Biografie zu bearbeiten. Im Sommer 2023 stand ein Wechsel der Behandlungsform an. Für den Übergang empfahlen mir sowohl meine alte als auch die neue Therapeutin eine selbständige Analyse: Ich sollte resümieren, welche Nebenschauplätze ich bisher vernachlässigt hatte, die eventuell von den großen, zuerst bearbeiteten Hauptthemen überdeckt worden waren. Im Sinne einer Inventur: Was liegt noch im Schatten, was muss noch beleuchtet werden? Als ich mich im Herbst 2023 wegen eines Infekts für zehn Tage in strenge Isolation begeben musste, war der richtige Zeitpunkt gekommen. Ich habe mich im Arbeitszimmer im Dachgeschoss eingeschlossen und mir jeden Tag ein Thema vorgenommen. Aus der reinen skizzenhaften Textform sind aber schnell Songstrukturen entstanden, und ich habe die einzelnen Themen dann als Songtexte bearbeitet, weil mir das leichter gefallen ist. Tagsüber habe ich in verrammelten Ecken gekramt und geschrieben, nachmittags und abends direkt aufgenommen. 'Lichtenberg Therapie' ist das Ergebnis."
Den groben Rahmen dessen, das VANDALISMUS hier beiläufig "meine Biografie" nennt, hat er in früheren Tracks längst erzählt: Als Kind erlebte er die Trennung von seinen Eltern, die nach ihrer Verhaftung als politische Gefangene in einem DDR-Gefängnis einsaßen. Erst Jahre später, nach ihrer Entlassung, durfte der Sohn ihnen in den Westen hinterherziehen, ins vermeintlich gelobte Land. Die Familienbande waren zu diesem Zeitpunkt natürlich längst zerrissen, eine Kinderseele verletzt, ein Junge gleich doppelt entwurzelt. "Das, wo ich herkomm, gibt es nicht mehr."
"Lichtenberg Therapie" spaziert nun in der Zeit zurück nach Ost-Berlin und stöbert die Gespenster der Vergangenheit auf. Die Tracks beschwören Emotionen von damals wieder herauf, den Kloß im Hals, die Beklemmung, die Scham, das Wechselbad aus Hilflosigkeit und ohnmächtiger Wut, das Gefühl, nirgends dazuzugehören, vertauscht worden, ein "Wechselbalg" zu sein. "1157 LB", mit der früheren Postleitzahl von Berlin-Lichtenberg betitelt, beleuchtet das gespaltene Verhältnis zur Großmutter, bei der VANDALISMUS einst unterkam: eine Fallstudie in toxischen Familienbeziehungen, in der erstmals auch die Mutter zu Wort kommt. Generell haben die meisten in den Songs bearbeiteten Probleme ihren Ursprung in ungesunden zwischenmenschlichen Beziehungen, die sich in Koabhängigkeitstendenzen, Verlust- und Identitätsängsten oder dem manipulativen Arbeiten mit Liebesentzug äußern. Es geht um eine beschädigte, entsprechend dysfunktionale Familie, aber auch um Strategien, um mit erlittenen Verletzungen umzugehen, und um die Kollateralschäden, die sich daraus ergeben, wenn Menschen über Jahre hinweg Fassaden errichten, um nur nicht hineinstarren zu müssen, in die Abgründe, in denen es schwärt. Das Cover bringt genau diese giftigen Strukturen inklusive dem "schiefen" Heim optisch auf den Punkt.
Musikalisch untermalen ruhige, dennoch gewaltige Instrumentals aus vertrauten und ganz frisch entdeckten Quellen die jeweils herrschende Stimmung. KENJI451, für seine Zusammenarbeit mit Zugezogen Maskulin oder Amewu bekannt, kooperierte bereits mehrfach mit VANDALISMUS und steuert auch diesmal drei Beats bei, MAULI, inzwischen ebenfalls ein langjähriger Bekannter, einen weiteren. Den Rest besorgen Producer, deren Namen bisher (noch) nicht so vertraut klingen mögen, die deswegen aber kein Stück weniger versiert den Ton der jeweiligen Szenerie treffen: INDUSY kleidet das "Hubba Hideout" mit superfettem Bass aus. ROB IRGENDWER verantwortet das Monster, das "Aus der Wand hinter mir" kriecht und dessen Aura die Vocals nahezu absorbiert. D-VEE beschwört mit verwaschener, hüpfender Melodie den Vibe von "1157 LB". Wie ambivalent Erinnerungen ausfallen können, demonstriert der Remix dieses Tracks: ST. ROSIE streift ihm hemmungslos ein Disco-Gewand über und nimmt dem Thema so zwar die Schwere, nicht aber seine Würde.
"Mach dir keine Sorgen, es geht schon", beruhigt VANDALISMUS in "Van Houten", und das vielleicht Überraschendste an "Lichtenberg Therapie": Man nimmt ihm diesen Satz ab. Die Tage der Selbstzerfleischung scheinen endgültig vorüber, die Zeit der Kompensationsstrategien ebenso. Ja, es gibt noch immer Baustellen, und, ja, sie verdienen, dass man sich mit ihnen beschäftigt. Die folgende Ruhe, die derlei Aufräumarbeiten versprechen, ist die Mühe wert.
Vandalismus - Lichtenberg Therapie (LP/MC/Digital 03.05.24)
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