Vandalismus - RITUAL O.S.T.
Mit "RITUAL O.S.T." fügt VANDALISMUS seiner Diskografie das inzwischen vierte Album hinzu. Damit schließt er manchen Kreis. Noch immer gehen in seinen Tracks Rap und ehrliche, ungefilterte Emotion Hand in Hand. Unverändert gestattet VANDALISMUS tiefe persönliche Einblicke in den Sturm, der in seinem Inneren tobt, auch wenn sich die seelische Wetterlage inzwischen deutlich beruhigt hat. Vieles fühlt sich ähnlich an wie in der Vergangenheit, manches hingegen ganz anders. Entwicklungen, die sich auf dem Vorgänger "Bombers from Burundi" und teils noch früher abzuzeichnen begannen, finden ihre Fortsetzung, manche ihr (vorläufiges) Ende: "Ich hab' so viel abgetrennt, verloren und verbrannt, verdammt, war so abgelenkt, verbohrt - und jetzt: grundentspannt."
Die Eskalation, die früher maximalen Raum einnahm, ist passé. Auch hat VANDALISMUS nicht mehr nötig, mit aller Gewalt um Ruhe und Frieden zu ringen. Die neue Herausforderung besteht nun darin, sich in den (noch) unvertrauten Welten abseits der Extreme zu orientieren und einzurichten. Selbstgewählte oder von außen aufgezwungene Rollenbilder engen noch immer ein, die Auseinandersetzung damit ist keineswegs beendet. Statt auf Flucht und Kompensation setzt VANDALISMUS mittlerweile aber viel stärker als zuvor auf Aufarbeitung, Abwarten und Aushalten.
Natürlich hinterlässt die neue Grundstimmung, "optimistisch, fast kein Opfer mehr", auch Spuren im Sound. Es geht ruhiger, geerdeter, gelassener zu. Mehr und mehr öffnet VANDALISMUS sein Spektrum für Gesang und Melodien. Wer jedoch glaubt, diese Fokusverschiebung müsse "RITUAL O.S.T." zwangsläufig zu einer lauwarmen, zahmen Angelegenheit machen, liegt weit daneben. Auch wenn die Tage der Selbstzerfleischung gezählt sind: Unter der dreckigen Kapuze blitzen nagelneue Reißzähne, jederzeit bereit zum Zuschnappen. VANDALISMUS teilt ungebrochen heftig aus und überschüttet diejenigen, die es verdient haben, noch immer mit Verachtung im Übermaß. Sein Zorn richtet sich diesmal insbesondere gegen bigotte Strukturen in Staat und Kirche, und, ja, dabei geht auch einmal ein Beichtstuhl in Flammen auf.
Dafür, dass gedrosseltes Tempo keineswegs zu Abstrichen in Brachialität und Wucht führen muss, sorgt die Produktion: TOMBS BEATS, MAULI und POLYBIUS² teilen sich die musikalische Ausgestaltung. Sachte, atmosphärische Beats ("Irrwisch", "Das Gesetz von Jante"), teils unverschämt Pop-lastige Melodien ("Die Marotten des Maskottchens") und knochenzermalmende Brecher ("EsoPunkRap", "Ein Dessert vor der Anarchie") wirken am Ende wie aus einem Guss. Angesichts der gebotenen Bandbreite erscheint es eigentlich völlig unmöglich, doch JAY BAEZ, verantwortlich für Mix und Master, hat trotzdem ein berückend einheitliches Soundbild hinbekommen.
Dem fügen die diesmal zahlreich aufgebotenen Gäst*innen weitere Facetten hinzu. BASSTARD, der Hohepriester des deutschen Horrorcore, reißt in "Der Diskurs ist vorherbestimmt" mit in seine persönlichen Abgründe. CRAK ruft in "Ein Dessert vor der Anarchie" höchst wirkungsvoll zurück ins Gedächtnis, warum er und seine Crew NO REMORZE in Britcore-Kreisen Legendenstatus genießen: Gemeinsam erschaffen er und VANDALISMUS ein Biest von einem Track, das gängige Songstrukturen grußlos über den Haufen rumpelt.
In der Sekunde, in der PILZ mit der Lunge voller Farbe in "EsoPunkRap" aufschlägt, steht die Frage im Raum, warum sie und VANDALISMUS nicht schon früher gemeinsame Sache gemacht haben: Die beiden marodieren, befeuert von einem weiteren brettharten POLYBIUS²-Beat, einmal quer durch die Szenerie. Dass der Track voller Referenzen steckt, lässt schon sein Titel ahnen: Für Emo bleibt allerdings kein Platz mehr in dieser Hommage aus dem Untergrund an den Untergrund.
MAULI dagegen bringt zu "Irrwisch" etwas mit, von dem man vorher gar nicht wusste, dass es das in dieser Form überhaupt existiert: vollkommen tiefenentspannte, durch und durch atmosphärische Bissigkeit. Der feenhafte Gesang von ELAY in der Hook unterstreicht den mystischen Eindruck noch.
"Ein Ritual", weiß Wikipedia, "(von lateinisch ritualis, den Ritus betreffend, rituell) ist eine nach vorgegebenen Regeln ablaufende, meist formelle und oft feierlich-festliche Handlung mit hohem Symbolgehalt. Sie wird häufig von bestimmten Wortformeln und festgelegten Gesten begleitet und kann religiöser oder weltlicher Art sein. (…) Manche Rituale gelten als Kulturgut."
Letzteres trifft auf dieses Album garantiert zu. Vor historischen, literarischen und popkulturellen Querverweisen, Sprachsamples und Zitaten quillt "RITUAL O.S.T." geradezu über. VANDALISMUS' Verwurzelung in diversen Subkulturen, von Rap und Punk zu Skateboarding und Graffiti, klingt überall durch. Sein cineastisches Faible spricht schon aus dem Zusatz "O.S.T." im Albumtitel: Er konzipiert sein "RITUAL" als Soundtrack zu einem Film und zitiert sich über die Laufzeit einmal durchs DVD- und Bücherregal. Mal als Seitenhieb, mal als respektvolles Kopfnicken verpackt, pflügt er quer durch die hiesige Hip Hop-Szene und darüber hinaus in Indiepop-, Hardcore- und Punkgefilde.
Wer zuvor nicht wusste, wer Mike Muir oder Agent Orange waren, oder dieser Friedrich Kautz, wie sich "Skoro Domoj" übersetzen lässt, was es mit dem "Gesetz von Jante" auf sich oder was Heinrich Kramer verbrochen hat: VANDALISMUS liefert reichlich Anlässe, sich neue Horizonte zu erschließen. Viel Vergnügen bei der Ostereiersuche, sie dürfte eine Weile dauern.
AL380 Vandalismus - RITUAL O.S.T. (LP,MC,Digital) 04.11.22
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